Ich denke, in meiner Generation ist es etwas Alltägliches, dass sich viele überfordert fühlen von der Flut an Optionen zur Selbstverwirklichung, mit denen wir konfrontiert sind. Unsere Eltern sagen uns von klein auf, dass wir "alles" werden können, wonach wir uns sehnen, auch wenn sie selbst mit einer anderen Realität zu kämpfen hatten. Wir beginnen schon früh die verschiedensten Hobbies auszuprobieren und immer wieder begegnen wir etwas Neuem, das uns mehr interessiert als das davor. Für mich war es ähnlich, nur hatte auch ich mit Anfang 20 den Trugschluss, dass ich bereits das Meiste gesehen hätte. Ich nahm mir zu viel vor, dachte, ich müsste mich ja gar nicht entscheiden und könnte gleichzeitig zwanzig verschiedene Interessen gleichzeitig jonglieren und kapitalisieren. Ich stürzte mich direkt nach meinem Umzug in eine Großstadt in eine langjährige Beziehung, ich reiste viel, sah dadurch viele Länder, lernte Sprachen, arbeitete in den verschiedensten Branchen, lernte viele Leute kennen und doch musste ich nach einigen Jahren die weiße Flagge hissen - ich wusste nicht, wohin mit mir. Es war dann, dass ich mich, genauso kitschig wie man es auch aus schlechten Romcoms kennt, unter den Nachthimmel stellte und eine Antwort suchte. Mit meiner Reflexion in den Scherben einer irreparablen Beziehung kam für mich die Realisation einher, dass ich nicht wusste, wer ich war. Es war in einem Traum - wortwörtlich - in dem ich schlussendlich sah, wie ich mich getrennt hatte, viele Tattoos meinen Körper zierten, und wie ich ausgerechnet in Stockholm lebte. Für mich gab es alsdann nichts Anderes mehr. Ich beendete meine ohnehin kaputte Beziehung, veränderte meinen Kleidungsstil, der mir nicht gefiel, und ließ mir viele Tattoos stechen, die mich an mich erinnern, und zog nach Stockholm, wo ich noch nie gewesen war. Ich wusste nicht, welche Energie es war, die in mir diese Impulsivität erblühen ließ. In Stockholm sind die Sommer ewig, der Mond näher an der Erde als anderswo, die Straßen breit, die Luft rein und am allerwichtigsten, ich sah mich selbst in der Stadt, gefühlt zum ersten Mal. Ich war nicht zusammengesetzt aus verschiedenen Bruchstücken meiner Interessen oder Beziehungen, ich war konfrontiert mit dem, wer ich wirklich war. Es fiel mir plötzlich einfach, mir selbst Zu- und Eingeständnisse zu machen. Bilder zu machen und sie nur mit mir selbst teilen zu wollen, auch wenn ich dasselbe früher genauso gesagt und trotzdem auf Instagram zur Schau gestellt hätte. Sport zu betreiben für meine Gesundheit und mein eigenes Körperbild, und nicht für jemanden anderen. Zu lesen und zu studieren, ohne mit dem Wunsch, aus meinem Wissen irgendein Kapital generieren zu müssen, weil ich lange der Propaganda verfallen war, dass man aus allem immer auch monetäre Vorteile generieren sollte. Das sind alles Fallen, in die ich immer noch hineintappe, ich bin durch all das kein klügerer Mensch geworden. Aber ich bin verliebt in das Gefühl, mir selbst eingestehen zu können, dass ich auch vieles falsch mache. Dass ich manchmal irrational bin, manchmal schwierig, manchmal zu verletzlich, manchmal zu hart. Der Frontalkortex ist angeblich mit ungefähr 25 Jahren vollständig ausgebildet. Er kontrolliert verschiedene Hirnareale die zuständig sind für die Impulskontrolle, Persönlichkeitsbildung, Entscheidungsfindung und so weiter. Ich steuere mit großen Schritten auf dieses Alter zu, und vielleicht ist es Placebo, vielleicht ist aber auch etwas dran an dieser ganzen Geschichte - mein Wunsch nach Selbstinszenierung gibt immer mehr nach. Was ich will ist mein eigenes Ich zu sehen das nächste Mal, wenn ich mich beim Vorbeilaufen eines Schaufensters selbst sehe, oder mein Spiegelbild sich mir zeigt bei einem Blick in den Teich, oder in den Augen einer Person, die ich liebe. Stockholm war für mich ein fehlender Puzzleteil. Ich zog weg und konnte mich nun aus einer Distanz wahrnehmen. Beschritt meinen Alltag alleine, machte, worauf ich Lust hatte. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken in der Natur und Stadt, die in Stockholm beide nahtlos miteinander verbunden sind. Es war eine Möglichkeit, mich zu entfernen von allem und jedem, um mir selbst näher zu kommen. Für mich war diese Erfahrung ausschlaggebend für die Erkenntnis, dass ich um anderen und anderem nah sein zu können, mir selbst nicht fern sein muss.
Was braucht es, um sich selbst zu sehen?
Nach einer turbulenten Lebensphase bat ich nach einem Zeichen, das mir meine Entscheidungen abnehmen und beibringen würde, mich selbst kennenzulernen.